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Zwischen den Weltkriegen

© Dorfgemeinschaft
Röhrenfurth

800 Jahre Röhrenfurth (1982)
Geschichte und Geschichten eines Dorfes
Aktualisierte Ausgabe

Zwischen zwei Weltkriegen 1919 - 1939

Die Ereignisse nach dem Waffenstillstand am 9. November 1918 näher zu schildern, kann nicht die Aufgabe dieser Chronik sein. Zum allgemeinen Verständnis erscheinen aber einige Schlagzeilen der Tageszeitungen dieser Novembertage dienlich. Da lesen wir zum Beispiel im "Casseler Stadtanzeiger": Berlin, 9. Nov. Scheidemann verkündet heute die Republik von der Terrasse des Reichstages mit einer Ansprache . . . oder: Berlin, 9. Nov. Karl Liebknecht hat die rote Fahne auf dem Schloß gehißt. . . oder: Berlin, 9. Nov. Um 10 1/2 Uhr wurde im großen Sitzungssaal des Reichstages die erste Sitzung des Arbeiter- und Soldatenrates abgehalten . . . oder: Berlin, 10. Nov. Auch die Umgebung des Bahnhofs Friedrichstraße war vergangene Nacht Gegenstand lebhafter Kämpfe . . . und: Cassel, 9. Nov. Auch in Cassel ist ein provisorischer Arbeiter- und Soldatenrat gebildet worden, mit dem die Behörden zusammenarbeiten. Das Rheinland wurde von den Franzosen und Engländern besetzt, Elsaß-Lothringen fiel zurück an Frankreich. Der Staat Polen wurde gegründet und erhielt einen direkten Zugang zur Ostsee, den sogenannten polnischen Korridor. Danzig wurde ein selbständiger Stadtstaat unter der Verwaltung eines vom Völkerbund ernannten Kommissars, die baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland erhielten ihre Selbständigkeit. In Oberschlesien kämpften die „Freicorps", um den Anschluß dieses Gebietes an Polen zu verhindern. Die Österreich-Ungarische Monarchie zerfiel, übrig blieb die Republik Österreich. Das Zarenreich war in der Oktoberrevolution des Jahres 1917 untergegangen. Die europäische Landkarte hatte ihr Gesicht wesentlich verändert. Und dem Deutschen Reich wurden unvorstellbar hohe "Reparationen", Wiedergutmachungsleistungen, aufgebürdet. Die Schlachtfelder, besonders in Nordfrankreich, glichen einer Mondlandschaft, und Millionen junger Männer hatten ihr Leben gelassen oder waren verwundet nach Hause gekommen. Die materielle Not wurde, besonders in den Städten, immer größer, der Wert des Geldes von Tag zu Tag geringer.
Sehr hart betroffen waren die Familien, die ihren Ernährer verloren hatten. In Röhrenfurth waren sechs Frauen Kriegerwitwen geworden, andere bangten noch um die in Kriegsgefangenschaft geratenen Männer und Söhne. Auf ihren Schultern lastete nicht nur die Sorge um die Familie, sie mußten mit ihrer Hände Arbeit auch sich und die Kinder ernähren.
Die beginnende Inflation zehrte die Ersparnisse auf, die Preise stiegen in astronomische Höhen, und die Wochenlöhne -später wurde der Lohn täglich ausgezahlt- reichten kaum aus, um das tägliche Minimum an Nahrungsmitteln zu kaufen. Wer nicht sofort handelte, erhielt einen oder zwei Tage später nur noch einen Bruchteil oder nichts mehr für seine Tausender, Hunderttausender, Millionen oder Milliarden und zuletzt Billionen.
Im Sommer 1922 kostete ein Zentner Kartoffeln 300 Mark, ein Glas Bier 10 Mark, Anfang September ein Vier-Pfund-Brot 2 Millionen, Ende September bereits über 14 Millionen und der Zentner Kartoffeln 1,5 Milliarden Mark. Die Geldinstitute mußten Hilfspersonal zum Zählen der Unmengen Papiergeld
einstellen. Die Reichsdruckerei kam mit dem Druck der neuen Geldscheine nicht nach, die Arbeiter brachten ihren Lohn in Rucksäcken, Beuteln oder Taschen mit, die die Ehefrauen dann am Zug in Empfang nahmen, um zum Kaufmann, Metzger oder Bäcker zu rennen und einzukaufen. Oft verloren sie diesen Wettlauf, weil die Läden bereits leer waren.
Obdach- und Heimatlose zogen bettelnd durchs Land und waren dankbar für ein Stück Brot. Der Heuschuppen, der an das Röhrenfurther Gemeindehaus (Spritzenhaus am Bach) angebaut war, beherbergte fast jede Nacht „arme Handwerksburschen" und hin und wieder auch Frauen. Die Felddiebstähle waren alltäglich, die Kassen des Staates und der Gemeinden leer. Das Melsunger Tageblatt beschrieb in einer Ausgabe von Ende 1923 die Lage so: „Die Staaten sind geldlos, die Schulden zahllos, die Steuern endlos, die Regierung ratlos, die Politik ziellos, die Verwirrung maßlos, die Entente herzlos, die Bedrückung schamlos, die Deutschen rechtlos, die Proteste nutzlos, die Sitten zügellos, die Sparsamkeit sinnlos, die Zeitung ratlos - überall ist der Teufel los."

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Am 15. November 1923 ging dann wenigstens der „Geldspuk" zu Ende, die Rentenmark wurde als wertbeständiges Zahlungsmittel eingeführt. Wunder konnte sie aber nicht vollbringen, und es dauerte Jahre, bis sich die Zustände einigermaßen normalisierten.
Im gleichen Jahre gründeten einige Röhrenfurther den „Club lustig und zufrieden". Jedes der Mitglieder besaß ein eigenes Bierglas mit eingraviertem Namen, das jederzeit für einen kühlen Trunk in einem Regal hinter der Theke bereitstand. Später schloß sich der Club dem „Touristen-Verein Naturfreunde" an. Eine Mandolinengruppe und eine Volkstanzgruppe sorgten für Unterhaltung; man wanderte viel und half auch tatkräftig beim Bau des Naturfreundehauses auf dem „Hohen Meißner". Der Club bestand bis 1933 und erfreute sich großen Zuspruchs.
Es begannen die Jahre, die man später "die goldenen zwanziger Jahre" genannt hat. Sie brachten eine Scheinblüte der Wirtschaft, die 1929 durch die „Weltwirtschaftskrise" jäh beendet wurde. Es kam zu Konkursen in bisher nie gekannter Zahl, die Arbeitslosigkeit stieg unaufhaltsam, und 1932 waren weit über 6 Millionen Menschen ohne Arbeit.
Obwohl Röhrenfurth auch nach dem Kriege seine bäuerliche Lebensgrundlage nicht verloren hatte und damit die Nahrungssorgen nicht so unmittelbar zu spüren bekam, wie die Menschen in den Städten, war die Not in einigen Familien doch nicht zu übersehen. Am deutlichsten geht dies aus Beschlüssen der Gemeindevertretung der ausgehenden zwanziger und beginnenden dreißiger Jahre hervor, wo man lesen konnte: Der Witwe . . . wird auf ihren Antrag vom . . eine Notstandsbeihilfe von 5 Mark gewährt. Anderen bewilligte das Gemeindeparlament gar nur 2,50 Mark, 12,50 Mark war m. W. der Höchstbetrag, den eine Frau mit mehreren Kindern erhielt. Welche Überwindung wird es diese Röhrenfurther gekostet haben, der Gemeinde ihre Armut zu offenbaren. Auch ein Auszug aus der Chronik des Männergesangvereins schildert eindringlich die Situation des Jahres 1930. „Der Besuch der Gesangstunden war im allgemeinen befriedigend. Nur hemmen die wirtschaftlichen Nöte sehr und mancher eifriger Sänger wird durch Familiensorgen niedergedrückt, daß es ihm schwerfällt seine Gesangstunden regelmäßig zu besuchen".

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