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Willkommen in Röhrenfurth

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Die jüdischen Mitbürger

© Dorfgemeinschaft
Röhrenfurth

800 Jahre Röhrenfurth (1982)
Geschichte und Geschichten eines Dorfes
Aktualisierte Ausgabe

Den früheren jüdischen Einwohnern unseres Dorfes in memoriam

Die Chronik unseres Dorfes wäre unvollständig, wenn nicht gar unehrlich zu nennen, würde in ihr nicht auch unseren früheren jüdischen Mitbürgern ein Kapitel gewidmet. In der Mitte des vorigen Jahrhunderts lebten immerhin 102 jüdische Bewohner in 14 Häusern in Röhrenfurth! Das war ein Fünftel der damaligen Einwohnerzahl.
Im früheren Kreisgebiet hatten sich die Einwohner jüdischen Glaubens nur in einigen Orten angesiedelt, so in Melsungen, Spangenberg, Felsberg, Guxhagen, Röhrenfurth, Malsfeld und im südlichen Kreisteil, in Heinebach. In Röhrenfurth lebten Juden etwa 250 bis 300 Jahre lang. Namentlich wurden erstmals im Jahre 1711 drei Juden genannt: ,Jude Joseph Hammerschlag, hat ein eigen Häuschen und handelt mit Vieh, garn und allerhand Wahren. Es sind noch zwey Juden allhier haben aber keine eigene Häuser, Levi Abrahamb, treibt Pferdehandel, Levi Schier, treibt allerhand Handel", heißt es in der „Taxierung der Häuser zu Röhrenfurth". 1744 wird in der Vorbeschreibung des "Lager-, Stück- und Steuer-Buches der Dorfschaft Röhrenfurth" von "1 Jude, so handelt und 3 Juden, so sich mit betteln und dergl. nähren" geschrieben. Geht man davon aus, daß, wie damals üblich, nur die männlichen Einwohner erfaßt wurden und diese drei bzw. vier Juden verheiratet waren und auch Kinder hatten, so können damals etwa zehn bis fünfzehn Röhrenfurther Einwohner jüdischen Glaubens gewesen sein.
 
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Aufgrund einer landgräflichen Verordnung aus dem Jahre 1687 hatten alle Juden ein sogenanntes Judenschutzgeld zu bezahlen. Die Höhe richtete sich nach dem persönlichen Einkommen und Vermögen und betrug zwischen 4 Rthl. 3 Alb. und 12 Rthl. 16 Alb. Für die Ausstellung des Judenschutzbriefes mußten weitere 1/2 Rthl. bis 1 Rthl. 8 Alb. "Federlappengeld" bezahlt werden. Für mittellose Juden hatten ihre Glaubensbrüder das Schutzgeld aufzubringen.
Im Jahre 1760 zahlten 6 jüdische Röhrenfurther Familien jeweils 5 Rthl. Judenschutzgeld. Es waren die Familien Levi (2 mal genannt), Wolff Nathan, Mendel Moses, Speyer und Itzig, die unter dem landgräflichen Schütze hier wohnen und handeln konnten. 1771 besaß „Lebe Moses Ein Schutzjude" das Haus Nr. 7, "Ein Häufigen auf dem Hirthenrain genannt, ist ein Ködersitz" mit 5/16 Acker 1 Ruthe "Erbgarten beym Hauße" und außerdem etwas Ackerland, Wiese und auch einen Anteil am Gemeinnutzen. Sein Besitz ging 1796 an Bonewed Moses, 1806 an Noa Moses und 1821 an Salomon David und dessen Ehefrau Eddel, geb. Levi über (die ganz alten Röhrenfurther kauften noch "bie Eddeis" erst später "biem Levi"). Schließlich erbte Sandel David den Nachlaß im Jahre 1859, allerdings ohne das Häuschen am Hirtenrain; denn 1852 gab es dort kein Judenhaus mehr. Andere Röhrenfurther Juden besaßen ebenfalls Land und Wiesen, so wird 1828 Levi Rosenblat als Besitzer eines Ackers genannt. Man kann daraus schließen, daß sie von Anfang an auch etwas Ackerbau trieben (siehe auch im "Röhenfurther Steuerstock" von 1712 bei den Hausbesitzern: Joseph Hammerschlag, 1 klein Häußchen und stall daran . . . sambt der Mistenstätte).
Im Jahre 1807 zahlten 7 jüdische Familien Judenschutzgeld, was einer Einwohnerzahl von etwa 35 bis 40 Personen entsprach. Ab 1810 waren auch in Hessen die Juden gleichgestellte Bürger, wurden aber zu "Huldigungspflichtigen" ernannt.
Innerhalb der folgenden 50 Jahre wuchs die jüdische Bevölkerung unseres Dorfes -wie bereits erwähnt- auf 102 Köpfe an. 14 Familien besaßen ein eigenes Haus, man konnte eine Synagoge bauen, die gleichzeitig Schule war und Röhrenfurth hatte eine selbständige jüdische Gemeinde. Allerdings war diese "Blütezeit" nur von kurzer Dauer, denn in den nächsten 25 bis 30 Jahren schrumpfte sie zur Bedeutungslosigkeit, auf etwa den Stand zu Anfang des Jahrhunderts. Die Kinder besuchten wieder die Röhrenfurther Schule, den Religionsunterricht erhielten sie in der Melsunger Synagoge. Die hiesige baute man 1921 zu Wohnungen um. Was die Ursache für die Abwanderung in andere Städte, ins europäische Ausland und auch in die USA war, kann nur vermutet werden. Überwiegend waren es wohl wirtschaftliche Gründe, die dazu zwangen, den Ort zu verlassen.
Röhrenfurth und sein "Hinterland" Ober- und Unterempfershausen, Eiterhagen und Kehrenbach, teilweise Quentel und Kirchhof waren viel zu klein, um alle jüdischen Familien auch nur einigermaßen angemessen zu ernähren. In einer Ortsbeschreibung des Jahres 1858 heißt es „die Juden treiben Nothhandel und Ackerbau". Einige konnten, wie überliefert ist, nur dank der Unterstützung ihrer Glaubensbrüder in Melsungen existieren.
So lebten im Jahre 1892 noch vier jüdische Familien in Röhrenfurth, mit etwa der gleichen Kopfzahl wie 1744. Im Hause vor der Kirche wohnte Seligmann Speier mit seiner Frau, im Hause neben der Synagoge (später in der 1921 zu Wohnungen umgebauten Synagoge) Bonevit Kleblat mit seiner Frau Röschen geb. David und sein Sohn Noa und dessen Ehefrau Fanni, zu denen sich später noch deren drei Töchter Recha, Selma und Frieda und vier Söhne Baruch, Siemon, Moritz und Salli gesellten, dann der Handelsmann Sandel David, Salomons Sohn (später Levi David) und im Hause daneben Jakob (Itzig) und Marianne Levi, geb. Bachrach mit ihren Kindern Emma und Süssmann, der als Soldat in den Ersten Weltkrieg zog und am 27. 7.1918 fiel. Sein Name steht auf dem Kriegerehrenmal der Gemeinde.
Dieselben Familien, die auch nach dem Ersten Weltkrieg noch in Röhrenfurth wohnten und die den meisten „eingesessenen" Röhrenfurthern, zumindest dem Namen nach oder noch persönlich bekannt sind. Liebmann und Seligmann Speier, Bonavit Kleblat, Sandel David, Noa Kleblat, Jakob (Itzig) Levy und ihre Frauen sind auf dem im Jahre 1861 in Melsungen angelegten jüdischen Friedhof (rechts neben dem früheren Finanzamt, nun Katasteramt in der Fritzlarer Straße) beerdigt, ihre Grabsteine noch erhalten. Bis dahin hatten die Juden ihre Toten auf dem Sammelfriedhof in der Nähe von Binsförth beigesetzt. Ein wahrlich weiter und beschwerlicher Weg zur letzten Ruhe. Der Sammelfriedhof wurde "bis zuletzt" benutzt und befindet sich in einem gepflegten Zustand.
 
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Die Familien Levi David sowie Moritz und Salli Kleeblatt durchlebten nach 1933 alle Schrecken des "Dritten Reiches", zunächst in Röhrenfurth -Moritz Kleeblatt war in 1938 beim Bau der Röhrenfurther Umgehungsstraße eingesetzt-, dann in Arbeitslagern -ein Röhrenfurther sah ihn 1943 in Warschau und konnte sogar einige Worte mit ihm wechseln-, bis sie zum bitteren Ende unmenschlich und elendiglich im Konzentrationslager zu Grunde gingen. Lediglich die Kinder von Moritz Kleeblatt -Walter und Edith- überlebten. Sie wohnen heute im Staate New Jersey in den USA. Diese jüdischen Familien waren weitgehend in die Dorfgemeinschaft aufgenommen worden. Die Kleblats hatten ihren Namen in Kleeblatt eingedeutscht (im Jüdischen gab es keine Verdoppelung der Vokale oder Konsonanten).
Moritz war Soldat im Ersten Weltkrieg gewesen und Mitglied im Männergesangverein, Salli im Sportverein. Beide ernährten ihre Familien mehr schlecht als recht. Sie handelten mit Textilien und Kurzwaren, schlachteten Ziegen und kauften die Felle auf, und manchmal kamen sie, ohne etwas verkauft zu haben, über den "Judenpfad" von Kehrenbach nach Röhrenfurth zurück. Bei Levi David ließ mancher Röhrenfurther in der "schlechten Zeit" anschreiben und war gewiß, daß niemand davon erfuhr. Im Winter borgten "wir" uns seinen Jagdschlitten -mit dem er seine Waren nach Empfershausen und Eiterhagen brachte- hin und wieder aus, um damit nächtliche Schlittenfahrten von "Piffersch Schiere" zur Mülmisch zu unternehmen. Und manchmal gab es zum Schawes auch mal Matzen, jene dünnen, nur aus Wasser und Mehl gebackenen Brotfladen zum Kosten.
Erinnert werden muß aber auch an jene Röhrenfurther Männer und Frauen, die in der Dunkelheit ihren jüdischen Mitbürgern in Schürzen und Taschen versteckt Lebensmittel zukommen ließen und die, die Gefahr für die eigene Person und Familie nicht achtend, heimlich bei Levi David einkauften, auch dann noch als sein Laden von SA-Männern bewacht wurde. Diesen Röhrenfurther sollte, obwohl sie weitgehend unbekannt geblieben sind, unsere Hochachtung gelten!
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